Sexarbeit in der Nazi-Zeit: Gedenk-Bordstein in St. Pauli erinnert an das Leid der Frauen

SteveJ

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Mannshoch ragen sie in den grauen Hamburger Himmel, abweisend, mit Stickern, Graffiti und Werbung übersät:
Verwitterte Sichtblenden riegeln die knapp 60 Meter lange Herbertstraße zu beiden Seiten ab.
"Zutritt für Jugendliche unter 18 und Frauen verboten" warnt ein rotes Schild auf Deutsch und Englisch.

Kaum jemand weiß, wer die Metalltore vor der Prostituiertengasse aufgestellt hat.
Ich wusste es auch nicht, bis ich vor ein paar Jahren im Rahmen einer Kieztour erfahren habe, dass es die Nationalsozialisten waren, die 1933 die Herbertstraße mit Sichtblenden versahen.
Dass sie die Sexarbeiterinnen dort einst kasernierten, überwachten und schikanierten, sie bei den geringsten Verstößen gegen absurd strenge Auflagen inhaftierten, deportierten, ermordeten. 😔

Das soll sich jetzt ändern:
Auf Initiative der St. Pauli Kirche und des Vereins Lebendiges Kulturerbe St. Pauli e.V. bekommen die Freudenmädchen der legendären Bordellgasse einen Stolperbordstein aus Messing.
"Bravo! Das ist ein längst überfälliger Schritt", sagt Madame Kali, Sexarbeiterin, Domina und Aktivistin vom Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen e.V.
"Wir müssen alles tun, um diese stigmatisierten NS-Opfer vor dem Vergessen zu bewahren."

Denn die Herbertstraße gehört zwar zu den beliebtesten Instagram-Hotspots von Hamburg-Touristen – kaum eine Junggesellenabschiedshorde, die nicht mindestens einmal grölend durch die Gasse wankt.
Doch nur wenige wissen, welchem staatlich organisierten Terror die Frauen hinter den Metalltoren einst ausgesetzt waren.

Über ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen in der NS-Zeit gebe es "kaum fundierte Kenntnisse", sagt Gunhild Ohl-Hinz vom St. Pauli-Archiv e.V.
Die Quellenlage sei "äußerst schwierig".

Historikerin Frauke Steinhäuser ist es dennoch gelungen, zwei Schicksale nachzuzeichnen und so das anonyme Leid anhand zweier Namen begreifbar zu machen – jenen von Sophie Gotthardt und Johanna Kohlmann, die sich "Otto" nannte und am liebsten Männerkleidung trug.
Sie waren 1940 nachweislich in der Herbertstraße tätig.

Gotthardt wurde 1912 in Köln geboren, Kohlmann 1918 in Frankfurt am Main. Beide Frauen stammten aus bitterarmen Familien.
Gotthardt hatte neun Geschwister sowie einen cholerischen Vater, sie prostituierte sich seit Teenagerzeiten und heiratete dann einen vorbestraften Friseur, doppelt so alt wie sie.

Kohlmann war (nach heutigen Begriffen) das non-binäre Kind eines Alkoholikers und träumte von einer Karriere als Filmstar; mit 16 verliebte sie sich erstmals in eine Frau.
Beide wurden als "geisteskrank" und "pervers" stigmatisiert, aus der NS-Volksgemeinschaft ausgestoßen und nach Hadamar eingewiesen.
In dieser berüchtigten NS-"Landesheilanstalt" in Hessen wurden von 1941 bis 1945 fast 15.000 überwiegend psychisch kranke und behinderte Menschen ermordet. :eek:

Gotthardt und Kohlmann blieben am Leben, wurden in Hadamar jedoch zwangssterilisiert.
Ebenso erging es Schätzungen zufolge bis zu 400.000 Menschen in der NS-Zeit.
Nach ihrem Martyrium in Hadamar lernten sich Gotthardt und Kohlmann Ende 1939 in Frankfurt kennen und wurden ein Paar.
Beide prostituierten sich – und zogen gemeinsam nach Hamburg.

Wie im ganzen Reich unterlag die Sexarbeit auch dort einer rigiden Kontrolle.
Während Adolf Hitler die Prostitution 1925 in "Mein Kampf" als "Schmach der Menschheit" geißelte und am liebsten ganz beseitigt hätte, beschränkte sich der NS-Staat darauf, die käufliche Lust bis ins letzte Detail zu regulieren und zu überwachen.

Prostitution sollte "im nationalsozialistischen Staat derart zurückgedrängt werden, dass eine Belästigung der Öffentlichkeit und eine Gefährdung der Jugend unterbleibt", hieß es in einem Schreiben von 1934.

Nach ihrer Machtübernahme machten die Nazis die faktische Straflosigkeit der Prostitution rückgängig und schränkten die Bewegungsfreiheit für Sexarbeiterinnen stark ein.
Die Polizei führte willkürlich Razzien durch und verhaftete "auffällige" Frauen.
Allein zwischen März und Mai 1933 nahmen die NS-Beamten in Hamburg 3201 "unzuchttreibende Frauen" fest, 814 Frauen kamen in Schutzhaft.

Mit Kriegsbeginn wurden die Maßnahmen drastisch verschärft, um der "Vergiftung des Volkskörpers" Einhalt zu gebieten und die "Wehrkraft" nicht zu gefährden.
In einem vertraulichen Rundschreiben von 1939 ("Zur polizeilichen Behandlung der Prostitution") erließ Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamts, penible Regeln:
Prostituierte durften sich künftig nachts weder außerhalb der Wohnung noch tagsüber in bestimmten öffentlichen Räumen aufhalten.

Sie mussten Umzüge melden, zudem "Schutzmittel" benutzen und mehrfach pro Woche zum Abstrich auf Geschlechtskrankheiten beim Gesundheitsamt erscheinen.
Wer nicht kam, wurde abgeholt und ins Gefängnis gesperrt, teils entmündigt und zwangssterilisiert.
Oder in eine geschlossene Anstalt gesperrt, zur Zwangsarbeit herangezogen, ins KZ deportiert.
Weiterhin durften Sexarbeiterinnen nur noch in genehmigten Häusern und Straßen arbeiten.

Die Polizeibehörde richtete fünf Straßen als offizielle Bordellstraßen ein, auf St. Pauli war die "Ausübung gewerbsmäßiger Unzucht" ausschließlich in der abgeriegelten Herbertstraße erlaubt.
Der Staat fungierte als Zuhälter, hier vergnügten sich laut Historiker Robert Sommer die SS-Männer des KZ Neuengamme nach Feierabend.

Außerhalb der Bordellgasse durften die Prostituierten keine "anstößige Kleidung" tragen; eigene Kinder wurden ihnen entzogen – für den Unterhalt mussten sie dennoch aufkommen.
"Über der kleinen geduldeten Schar der Herbertstraße von etwa 100 Frauen lag eine existenzielle Bedrohung", schreibt Ariane Barth in ihrem Buch "Die Reeperbahn. Kampf um Hamburgs sündigste Meile".

Anfang Juni 1940 holte die Hamburger Gestapo Sophie Gotthardt und Otto Kohlmann zum Verhör ab.
Vordergründig ging es um angebliche Schwarzmarktgeschäfte ihrer Bordellwirtin.
Die beiden Prostituierten aus der Herbertstraße gaben offen zu, in einer homosexuellen Beziehung zu leben.

Wenige Wochen später fahndete die Geheime Staatspolizei erneut nach ihnen. Die beiden hatten die Zwangsuntersuchungen auf Geschlechtskrankheiten versäumt.
Sie waren untergetaucht, um den permanenten Kontrollen durch Polizei und Gesundheitsamt zu entrinnen.

Das Schreiben des Hamburger Amtsgerichts vom 10. September 1940 an ihre Adresse in "Hamburg, Herbertstraße 8, Bordell" konnte nicht mehr zugestellt werden.
"Unbekannt verzogen", stand auf der Rückseite des Briefumschlags.
"Wenn ich 10 Jahre herumreise, kriegen tut man mich doch nicht", zitierte eine Zeugin damals Gotthardt.

Ein Irrtum:
Nachdem Gotthardt und Kohlmann nach Frankfurt geflohen waren, nahm die Kriminalpolizei sie ohne Richterbeschluss in sogenannte Vorbeugehaft – und deportierte sie am 7. Oktober 1940 ins Frauenkonzentrationslager nach Ravensbrück...

Warum? :unsure:
Weil das Naziregime Prostituierte als "Asoziale" brandmarkte, ebenso wie etwa Obdachlose, Fürsorgeempfänger, Bettler, Landstreicher, vermeintlich "Arbeitsscheue", Alkoholiker, Drogen- und Spielsüchtige.
Kurzum alle, die nicht dem Ideal der NS-Volksgemeinschaft entsprachen: als "minderwertig" abgestempelte "Schädlinge", die es "auszumerzen" gelte.

Im Nationalsozialismus drangsaliert und deportiert, ausgebeutet, misshandelt und ermordet, ignorierte die deutsche Gesellschaft nach dem Zusammenbruch des "Dritten Reichs" jahrzehntelang das Schicksal der "Asozialen" – das Wort gehört bis heute zum gängigen Vokabular.
Erst 2020, 75 Jahre nach dem Untergang der NS-Diktatur, wurden die als "asozial" Verfolgten im Bundestag offiziell als NS-Opfergruppe anerkannt, ebenso die "Berufsverbrecher".

Im KZ Ravensbrück mussten Gotthardt und Kohlmann einen schwarzen Winkel auf der Häftlingskleidung tragen, wie auch die insgesamt 5500 als "asozial" stigmatisierten Häftlingsfrauen im Lager: Ort der Erniedrigung, Ausbeutung, der qualvollen Menschenexperimente.

Im April 1942 trennten sich die Wege des Paars:
Die SS überstellte Sophie Gotthardt in das Stammlager Auschwitz, wo sie als "Funktionshäftling" eingesetzt wurde.
Das NS-Opfer wurde (wenn auch nicht freiwillig) zur Täterin:
Laut Vorwürfen jüdischer Frauen nach dem Krieg soll Gotthardt Mitgefangene schikaniert und mit einem Holzprügel erschlagen haben... :(

Gleichzeitig lebte sie in permanenter Todesangst, unternahm Selbstmordversuche und verletzte mehrfach sich selbst, indem sie Löffel und andere Metallgegenstände schluckte.
"Nervlich moralisch körperlich gesundheitlich hat mann die Menschen zugrunde gerichtet", schrieb Gotthardt 1947 über ihr jahrelanges Martyrium in den Lagern (hier in Originalschreibweise):
"Ich seh es noch wie heute diese schrecklichen Krimatoriums Brennen kleine Kinder zum Scheiterhaufen für mich als Nerfenkranker Mensch ein Bild zum Wansinnig Werden.
Erinnerungen die man nie vergisst. (…) ich war im KZ sehr krank die Angst auch ich gehe ins Krimatorium hat mir im Lager die Sinne verwirrt wenn ich einen Mithäftling eine geschlagen habe so habe ich es nicht böse gemeint."

Auch Kohlmann wurde nach Auschwitz deportiert; später verschleppte die SS beide Frauen zurück nach Ravensbrück.
Die Sexarbeiterinnen aus der Herbertstraße überlebten die Konzentrationslager, waren jedoch gebrochen an Leib und Seele.
Wegen ihrer Grausamkeit als Funktionshäftling wurde Gotthardt 1948 in Polen als Kriegsverbrecherin verurteilt.

Als sie nach acht Jahren Haft vorzeitig entlassen wurde, war ihre Gefährtin Kohlmann nicht mehr am Leben:
"Otto" erlag 1956 mit 38 Jahren, verarmt und krank, einer Tuberkulose.
Sophie starb vier Jahre später, auch sie krank, zu 80 Prozent erwerbsunfähig, mittellos, auf Wohlfahrtsunterstützung angewiesen.

Selbst nach ihrem Tod wurden beide Frauen weiter stigmatisiert:
Das Kölner Wiedergutmachungsamt lehnte einen Entschädigungsantrag Sophie Gotthardts 1963 mit der Begründung ab, sie sei nicht aus politischen Gründen "in Gewahrsam genommen" worden.

Und zu Otto Kohlmann, die ebenfalls keinerlei Wiedergutmachungszahlungen erhielt, vermerkte ein Protokoll von 1962:
"Auch sie wurde wegen asozialen Lebenswandels in pol.[izeiliche] Vorbeugungshaft genommen."

Das Schicksal der beiden Sexarbeiterinnen zeige exemplarisch, dass in der frühen Bundesrepublik ein "gesellschaftliches Bewusstsein für das Unrecht fast vollständig fehlte, das den angeblich 'Asozialen' angetan worden war", so Historikerin Steinhäuser.
Auch Politik, Justiz und Zivilgesellschaft hätten es "überwiegend und weiterhin als gerechtfertigt" angesehen, dass die "Betroffenen für ihr sozial unangepasstes Verhalten bestraft wurden".

Der Gedenk-Bordstein für die Prostituierten aus der Herbertstraße wird übrigens direkt vor den verwitterten Nazi-Sichtblenden auf der Seite der Davidstraße verlegt.
Auf dass möglichst viele – ob Selfieknipser, Partyfreudige oder Einheimische – kurz drüber stolpern, innehalten und sich an das Leid der Lustverkäuferinnen erinnern.

Zeit wär’s... 😔

Quellen: Spiegel, Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen e.V., St. Pauli-Archiv e.V., Ariane Barth - "Die Reeperbahn. Kampf um Hamburgs sündigste Meile"
 

Spezi30

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nicht nur die Sexarbeit damals...alleine, was ich im Polizeimuseum über die Nazizeit gesehen habe, ist einfach nur zum Kotzen und ich hab mich echt gefragt, warum man den so verbrannten Begriff Polizei nicht abgeändert hat... :-( (hoffe, das ist ok, ist ja nicht politischer als der Eingangsbeitrag)
 
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